Die Phantomzeit-Hypothese: Sind 300 Jahre nie passiert?

Stellen Sie sich vor, die Geschichte, die Sie in der Schule gelernt haben – der Aufstieg und Fall von Imperien, die Geburt neuer Kulturen und die monumentalen Persönlichkeiten, die unsere Welt geprägt haben – wäre eine sorgfältig ausgearbeitete Lüge.
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Was wäre, wenn diese fast drei Jahrhunderte alte Geschichte nie stattgefunden hätte?
Dies ist die überraschende und umstrittene Behauptung im Kern der Phantomzeit-Hypothese, eine Theorie, die alternative Historiker und Verschwörungstheoretiker seit Jahrzehnten fasziniert.
Der vom deutschen Historiker Heribert Illig Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagene Phantomzeit-Hypothese legt nahe, dass die Jahre 614 n. Chr. bis 911 n. Chr. künstlich in die historische Zeitleiste eingefügt wurden.
Mit anderen Worten: Wir leben derzeit im Jahr 1725 und nicht im Jahr 2025. Diese kühne Theorie stellt alles in Frage, was wir über das frühe Mittelalter wissen, und zwingt uns, uns einer grundlegenden Frage zu stellen: Woher wissen wir wirklich, dass unsere Geschichte korrekt ist?
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Zusammenfassung der Theorie
- Die Kernaussage: Die Jahre 614 n. Chr. bis 911 n. Chr. sind eine fiktive Ergänzung des Gregorianischen Kalenders, ein Zeitraum von 297 „Phantomjahren“.
 - Die Täter: Eine historische Verschwörung, an der der Heilige Römische Kaiser Otto III., Papst Silvester II. und möglicherweise der byzantinische Kaiser Konstantin VII. beteiligt waren.
 - Das Motiv: Um die Regierungszeit Ottos III. rückwirkend auf das Jahr 1000 n. Chr. zu legen, ein symbolisch bedeutsames Datum, und um seine politische Legitimität zu stärken.
 - Der „Beweis“: Ein angeblicher Mangel an archäologischen Beweisen, die „Armut“ historischer Dokumente und das Vorhandensein von Kalenderabweichungen während dieser Zeit.
 - Die zentrale Figur: Karl der Große, der ikonische karolingische Kaiser, soll entweder eine mythische Figur oder eine fiktive Figur gewesen sein, die geschaffen wurde, um die Lücke der nicht existierenden Periode zu füllen.
 
Was ist die Phantomzeit-Hypothese wirklich?
Im Kern ist die Phantomzeit-Hypothese ist eine große Verschwörungstheorie von monumentalen Ausmaßen.
Ihr Hauptvertreter Heribert Illig argumentierte, dass die historischen Aufzeichnungen für die Zeit zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und dem Spätmittelalter verdächtig dünn seien.
Er wies auf einen seiner Ansicht nach auffälligen Mangel an historischen Aufzeichnungen, archäologischen Artefakten und bedeutenden Persönlichkeiten hin. Er bemerkte auch, dass die Baustile, insbesondere die Romanik, ihrer Zeit um einige Jahrhunderte voraus zu sein schienen.
Illigs Theorie geht davon aus, dass ein Trio mächtiger Herrscher – Otto III., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Papst Silvester II. und möglicherweise der byzantinische Kaiser Konstantin VII. – einen Plan ausheckte, um die Illusion eines 1000 Jahre alten christlichen Reiches zu schaffen.
Dies wurde angeblich durch die Erfindung einer fiktiven Periode und der dazugehörigen historischen Ereignisse erreicht, wodurch Otto III. im symbolischen Jahr 1000 n. Chr. regieren und seine Position als von Gott eingesetzter Herrscher festigen konnte.
Dieser Theorie zufolge wurde die Dynastie der Karolinger, einschließlich des legendären Karl des Großen, größtenteils erfunden, um diese historische Lücke zu füllen.
Die Verschwörer haben den Kalender angeblich um drei Jahrhunderte verlängert, was die Neufassung unzähliger Dokumente, die Synchronisierung unterschiedlicher Kalender und die Erfindung ganzer historischer Erzählungen erforderlich gemacht hätte.
Es handelt sich um eine kühne Behauptung, die, wenn sie wahr wäre, die erfolgreichste und weitreichendste Geschichtstäuschung aller Zeiten wäre.
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Der „Beweis“ für ein fehlendes Jahrtausend
Befürworter der Phantomzeit-Hypothese Sie stellen nicht einfach eine unbegründete Behauptung auf, sondern weisen auf ihrer Meinung nach eklatante Widersprüche in den historischen Aufzeichnungen hin.
Lassen Sie uns ihre Hauptargumente näher betrachten und genauer untersuchen.
Mangel an archäologischen Beweisen
Eine der zentralen Behauptungen besteht darin, dass archäologische Funde aus der Zeit zwischen 614 n. Chr. und 911 n. Chr. überraschend spärlich sind.
Illig und andere argumentieren, dass die Artefakte, Siedlungen und Alltagsgegenstände, die dieser Ära entsprechen sollten, einfach nicht vorhanden sind.
Sie legen nahe, dass die Funde aus der Zeit Karls des Großen entweder falsch datiert sind oder zu einem viel späteren Zeitpunkt errichtet wurden.
Dieses Argument stellt jedoch häufig eine Vereinfachung der Realität der Denkmalpflege dar. Der „Mangel“ an Beweisen ist eine höchst subjektive Behauptung.
Obwohl das frühe Mittelalter im Vergleich zur Römerzeit insbesondere in Westeuropa eine Zeit des Niedergangs städtischer Zentren und der großflächigen Bautätigkeit war, herrschte in dieser Zeit keineswegs eine Leere.
Es wurden bedeutende archäologische Funde gemacht, von Klostersiedlungen bis zu befestigten Städten, die eindeutig auf diese Zeit datiert werden können.
So wurden beispielsweise im fränkischen Palast Ingelheim, einer bekannten Residenz Karls des Großen, umfangreiche Ausgrabungen durchgeführt und die Besiedlungsschichten stammen eindeutig aus dem 8. und 9. Jahrhundert.
Das Problem liegt nicht in einem Mangel an Beweisen, sondern vielleicht in dem Mangel an großen, monolithischen Strukturen, die die römischen Aufzeichnungen dominieren – eine Folge der gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit.
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Diskrepanzen im römischen Kalender
Ein weiterer wichtiger Punkt der Hypothese dreht sich um den Übergang vom julianischen zum gregorianischen Kalender.
Der von Julius Cäsar eingeführte Julianische Kalender überschätzte die Länge eines Jahres, was zu einer langsamen, aber stetigen Abkehr vom Sonnenjahr führte.
Im 16. Jahrhundert wies der Kalender eine Abweichung von etwa zehn Tagen auf. Papst Gregor XIII. korrigierte dies 1582, indem er einfach zehn Tage übersprang – auf den 4. Oktober folgte der 15. Oktober.
Der Phantomzeit-Hypothese argumentiert, dass diese Korrektur viel größer hätte sein müssen. Illig vermutet, dass der julianische Kalender zum Zeitpunkt des Konzils von Nicäa im Jahr 325 n. Chr. bereits um volle 13 Tage abwich.
Wäre dies der Fall, hätte die Gregorianische Reform 13 Tage überspringen müssen, nicht 10. Der Unterschied von 3 Tagen ist laut Illig der Beweis dafür, dass diese 297 Jahre – die Phantomjahre – nie stattgefunden haben.
sein Argument scheint zwar mathematisch zu sein, lässt jedoch eine einfachere Erklärung vermissen: Der Julianische Kalender wurde mit einer Ungenauigkeit erstellt und seine Abweichungen sind gut dokumentiert.
Die Berechnungen des Konzils von Nicäa und die Gregorianische Korrektur basierten auf ihrem Verständnis der Frühlings-Tagundnachtgleiche und ihrer historischen Position und nicht auf einer abstrakten Berechnung aller vorherigen Abweichungen.
Die „Armut“ historischer Quellen
Die Befürworter betonen außerdem den ihrer Ansicht nach verdächtigen Mangel an detaillierten, unabhängigen historischen Quellen aus dieser Zeit.
Sie behaupten, dass die uns vorliegenden Aufzeichnungen Wiederholungen oder Widersprüche enthalten oder dass es sich bei ihnen offenbar um spätere Fälschungen handelt.
Hier rückt die Figur Karls des Großen in den Mittelpunkt. Illig und seine Anhänger argumentieren, dass die Primärquellen, die sein Leben und seine Herrschaft beschreiben, wie Einhards Vita Karoli Magni (Das Leben Karls des Großen) wurden später erfunden, um einen legendären Gründervater für das Heilige Römische Reich zu erschaffen.
Diese Behauptung bricht jedoch unter der Last der historischen Prüfung zusammen. Zwar sind aus dem Frühmittelalter weniger Dokumente erhalten als aus der Zeit des Römischen Reiches, doch sind die Aufzeichnungen, die wir besitzen, umfangreich und mit Querverweisen versehen.
Wir haben nicht nur Einhards Werk, sondern auch die detaillierte Annales regni Francorum (Königliche Fränkische Annalen), zahlreiche Kapitularien (königliche Erlasse) und eine große Menge religiöser und juristischer Texte aus dieser Zeit.
Darüber hinaus verfügen wir über zeitgenössische byzantinische, islamische und angelsächsische Quellen, die sich auf die Karolinger-Dynastie und ihre Ereignisse beziehen und so ihre Existenz und ihren Einfluss unabhängig bestätigen.
Die Vorstellung, dass all diese unterschiedlichen Quellen Teil einer einzigen, koordinierten Verschwörung sind, ist einfach nicht plausibel.
Die Gegenargumente: Die Vergangenheit zurückgewinnen

Während die Phantomzeit-Hypothese ist eine faszinierende intellektuelle Übung, wird aber durch eine Vielzahl wissenschaftlicher, astronomischer und historischer Beweise überwältigend widerlegt.
Hier trifft der Spaß an einer Theorie der „alternativen Geschichte“ auf die harte Realität von durch Fachkollegen überprüften Fakten.
Wissenschaftliche Datierung: Dendrochronologie und Radiokarbon
Der vielleicht stärkste Beweis gegen diese Hypothese kommt aus der Wissenschaft. Die Dendrochronologie, die Untersuchung von Baumringen, ermöglicht es uns, Holzartefakte mit bemerkenswerter Präzision zu datieren.
Hölzer aus Gebäuden und archäologischen Stätten in ganz Europa, darunter auch bekannte karolingische Bauwerke, wurden auf das 8. und 9. Jahrhundert datiert.
Die Jahrringmuster dieser Hölzer, die für jedes Jahr und jedes Klima einzigartig sind, passen perfekt zu unserem aktuellen Kalender.
Ebenso ist es mit der Radiokarbonmethode, die den Zerfall von Kohlenstoff-14 in organischen Materialien misst, möglich, Artefakte aus dieser Zeit – von Manuskripten bis hin zu menschlichen Überresten – konsistent auf den akzeptierten Zeitrahmen zu datieren.
Wenn 300 Jahre vergangen wären, würde die Radiokarbondatierung jedes einzelnen Objekts aus dieser Zeit um Jahrhunderte abweichen, was jedoch nicht der Fall ist.
Dies ist ein unabhängiger, objektiver und unwiderlegbarer Beweis dafür, dass die fraglichen Jahre tatsächlich stattgefunden haben.
Astronomische Aufzeichnungen
In antiken und mittelalterlichen Chroniken wurden häufig bedeutende astronomische Ereignisse wie Sonnenfinsternisse und das Erscheinen des Halleyschen Kometen aufgezeichnet.
Diese Ereignisse können mit Hilfe der modernen Astronomie rückgerechnet werden und dienen dazu, historische Ereignisse mit einem hohen Grad an Sicherheit zu datieren.
Die Chronisten des frühen Mittelalters verzeichneten mehrere Sonnenfinsternisse und den Vorbeizug des Halleyschen Kometen im Jahr 837 n. Chr.
Diese Ereignisse passen perfekt zu unserem aktuellen Kalender und wären unmöglich gewesen, wenn Jahrhunderte gefehlt hätten. Der Himmel, so scheint es, lügt nicht.
Die Realität historischer und archäologischer Aufzeichnungen
Das Frühmittelalter war keineswegs eine Zeit der Quellenarmut, sondern vielmehr eine Zeit intensiver kultureller und politischer Veränderungen, die alle gut dokumentiert sind.
Die Ausbreitung des Islam ab dem 7. Jahrhundert, die Schlachten des Umayyaden-Kalifats und die letztendliche muslimische Eroberung Spaniens sind in islamischen und christlichen Quellen ausführlich dokumentiert.
Die Überfälle der Wikinger, die im späten 8. Jahrhundert begannen, sind sowohl in skandinavischen Sagen als auch in europäischen Klosteraufzeichnungen dokumentiert.
Die Tatsache, dass die Wikinger zu einem bestimmten, historisch nachweisbaren Zeitpunkt auftauchten und ihre Aktivitäten während des gesamten 9. und 10. Jahrhunderts fortsetzten, stellt eine kontinuierliche, ununterbrochene Kette von Ereignissen dar, die sich nicht mit einer Lücke von drei Jahrhunderten vereinbaren lässt.
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Die Psychologie der Verschwörungstheorien
Warum also Phantomzeit-Hypothese trotz der überwältigenden Beweise, die dagegen sprechen, Bestand haben? Es greift eine tiefe menschliche Faszination für geheimes Wissen und verborgene Wahrheiten auf.
Bietet eine verführerische Erzählung, die zeigt, dass die Geschichte kein chaotischer, komplexer Wandteppich zahlloser Einzelleben ist, sondern vielmehr eine große, vereinfachte Verschwörung, die von einigen wenigen mächtigen Männern orchestriert wurde.
Es gibt uns das Gefühl, in ein Geheimnis eingeweiht zu sein, und unterscheidet uns von den „Schafen“, die der offiziellen Version glauben.
Es handelt sich um einen intellektuellen Fluchtraum, ein Rätsel, das es zu lösen gilt, und im Zeitalter der Fehlinformationen ist seine Anziehungskraft verständlich, wenn auch nicht ganz logisch.
Fakten von Fiktion trennen
Letztlich ist die Phantomzeit-Hypothese ist ein Beweis für die Macht einer fesselnden Erzählung, aber es ist keine gültige historische oder wissenschaftliche Theorie.
Es ist ein Werk der Fantasie, das zwar faszinierend ist, aber bei der einfachsten Betrachtung in sich zusammenfällt. Die Jahre von 614 n. Chr. bis 911 n. Chr. waren nicht leer; sie waren eine Zeit enormer Veränderungen, Konflikte und Neuerungen.
In dieser Zeit entwickelte sich der Feudalismus, das Karolingerreich entstand, die Wikingerzeit begann und die islamische Wissenschaft florierte.
Die Beweise aus zahlreichen, unabhängigen Disziplinen – Astronomie, Archäologie, Dendrochronologie und die umfangreichen historischen Aufzeichnungen aus Europa, dem Byzantinischen Reich und der islamischen Welt – sind einfach zu überzeugend, um sie zu ignorieren.
Die Phantomjahre sind eine Geistergeschichte, eine fesselnde Legende, aber nicht mehr.
Häufig gestellte Fragen
Was ist das Kernargument der Phantomzeit-Hypothese?
Das Kernargument besteht darin, dass die Jahre 614 n. Chr. bis 911 n. Chr. ein fiktiver Zeitraum von 297 Jahren waren, der durch eine historische Verschwörung der historischen Zeitlinie hinzugefügt wurde.
Wer ist Heribert Illig?
Heribert Illig ist ein deutscher Historiker und Publizist, der als erster die Phantomzeit-Hypothese in den frühen 1990er Jahren.
Er argumentierte, dass dieser erfundene Zeitraum Teil eines größeren Plans des Heiligen Römischen Kaisers Otto III. und Papst Silvester II. war, ihre Herrschaft auf das Jahr 1000 n. Chr. zu datieren.
Was ist der stärkste Beweis gegen die Hypothese?
Die stärksten Beweise gegen diese Hypothese liefern wissenschaftliche Datierungsmethoden wie die Dendrochronologie (Baumringdatierung) und die Radiokarbonmethode. Mit diesen Methoden konnten Artefakte und organische Materie aus der angeblichen „Phantomperiode“ konsistent und unabhängig voneinander auf ihre anerkannten historischen Zeiträume datiert werden. Astronomische Aufzeichnungen von Ereignissen wie Sonnenfinsternissen bestätigen ebenfalls die Genauigkeit unseres heutigen Kalenders.
Warum ist das Jahr 911 n. Chr. in der Theorie von Bedeutung?
Der Theorie zufolge ist das Jahr 911 n. Chr. das Jahr, in dem unser Kalender mit der wahren historischen Zeitlinie „ausgerichtet“ wurde. Zuvor waren die Jahreszahlen angeblich erfunden worden. Das tatsächliche Jahr war laut Illig das Jahr 614 n. Chr., und die folgenden 297 Jahre gab es nie.
Wird die Phantomzeit-Hypothese von Historikern allgemein akzeptiert?
Nein. Die Phantomzeit-Hypothese wird von etablierten Historikern, Archäologen und Wissenschaftlern nicht akzeptiert. Sie gilt als pseudohistorische Theorie und Verschwörungstheorie, die durch eine Vielzahl von Beweisen gründlich widerlegt wurde.
